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Nordkurier, Artikel vom 28.05.2005 (Titelgeschichte Wochenendausgabe)

Es sind Engel im Neubau
Aktionstheater. Ulrike Hanke eröffnet an der FH Neubrandenburg ein Theaterlabor, in dem Spielräume für ästhetisches Handeln erprobt werden.

Von Matthias Wolf




Ein Teil der Gruppe, die an der Fachhochschule Neubrandenburg „Die Schrift der Engel“ erprobt – von links: Nadine Giese, Silva Eisenblätter, Ulrike Hanke, Karolin Reincke, Kati Kroß, Carl Beleites, Kristin Ehlert und Kati Jank. (Foto: Robert Krokowski)

Neubrandenburg. Die Pförtnerin grüßt freundlich. Sie wacht in einem Glaskasten über den Eingang zur Fachhochschule, einer Betontrutzburg am Rande der Vorstadt. Inmitten von Neubauten der End-DDR-Zeit liegen die Gebäude der jüngsten höheren Bildungseinrichtung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Versuchslabors und Experimentierstrecken für die angewandten Wissenschaften des Bau- und Agrarbereichs kamen in den letzten Jahren hinzu.
Hier arbeitet Ulrike Hanke. Sie war zwölf Jahre an Theatern tätig und hat zehn Jahre Schauspieler ausgebildet. „Das Theater engte meine Spielräume ein“, beschreibt die Frau mit dem wachen Blick den Wechsel. Im Schlosstheater Celle bekam sie für Brechts „Kleinbürgerhochzeit“ Beifall. „Aber den Applaus wollte ich nicht“, weiß sie heute, „ich hatte Ironie gewollt – aber die Zuschauer hatten mich richtig falsch verstanden.“

Seit 1992 lehrt sie am Fachbereich Soziale Arbeit der Fachhochschule Neubrandenburg Ästhetik und Kommunikation/ Kultur- und Medienarbeit, seit 1999 ist sie hier Professorin. „Verbitterte Gesichter, hart und voller Skepsis“ waren ihre ers-ten Eindrücke, als sie die Herausforderung annahm, Studenten der ersten Generation an einer neu entstehenden Hochschule auszubilden. Warum sie damals aus Kiel nach Mecklenburg kam? „Das hatte zwei gute Gründe: eine neue Hochschule mit aufzubauen, nicht nur als Künstler, sondern als Wissenschaftler. Und das bekannte Kammertheater, hier gab es Verbündete“, beschreibt sie ihre Motive. Als höflich und distanziert, aber neugierig empfand sie die Menschen in Neubrandenburg, die darauf zu warten schienen, dass etwas passiert. „Mach doch mal was, du machst doch Theater“, wurde Ulrike Hanke von Hochschulmitarbeitern angestoßen.

Da inszenierte sie mit ihrem Kollegen Rolf-Herrmann Geller morgens um sechs Uhr eine Weihnachtsperformance an der FH: ein Student hatte Ziege und Schaf mitgebracht, ein Tan-nenbaum aus alten Telefonen wurde gebaut, ein Potpourri mit Musik von Heino und Nina Hagen erklang. „Nach vier, fünf Stunden hingen von Hand gemalte Plakate in den Fluren – ‚Hanke und Geller – haut ab‘.“ Nach einer kurzen Phase der nachdenkenden Erholung wusste sie: „Ich mache weiter.“ Heute sind die Weihnachtsperformances Tradition.

„Oft hatte ich das Gefühl, ich bewege mich hier in einem Modell. Ich musste hineingehen und es beleben.“ Obwohl hier keine Künstler ausgebildet werden, erhalten die Studenten eine solide künstlerische Grundausbildung. Forschendes Lehren und Lernen könnte man den Ansatz Ulrike Hankes nennen. Er findet nun einen passenden Rahmen: Am 23. Juni eröffnet sie an der Fachhochschule Neubrandenburg ein Theaterlabor als „Aktionstheater“, in dem Spielräume für ästhetisches Handeln erprobt werden sollen. Deutschlandweit trägt dieses Konzept Modellcharakter; in einer sich immer schneller wandelnden Gesellschaft werden in allen Lebensbereichen kommunikative und darstellend-handelnde Kompetenzen immer wichtiger. Nicht nur in der Sozialarbeit, sondern auch in Wirtschaft und Wissenschaft sind freie Zusammenschlüsse von Experten zu einem verbindenden Thema an der Tagesordnung. „Der Arbeitsmarkt verlangt solche Projektarbeiter mit vielen Fähigkeiten: flexibel, kurzzeitig, teamfähig.“

Die Hochschule hat diese Entwicklung früh aufgenommen. Mit der Umbenennung des Studiengangs in „Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung“ hat dieser Schritt auch nach außen ein Gesicht bekommen. „Durch ästhetische Bildung verändert sich das pädagogische Verständnis“, bemerkt Ulrike Hanke nachdenklich, „soziale Arbeit kann nicht mehr Mängelverwaltung sein, sondern muss das Selbstbewusstsein der ‚Klienten‘ stärken.“

Gemeinsam mit Studenten höherer Semester, Absolventen und externen Künstlern entwickelte sie in den letzten Monaten Performances zum Thema „Die Schrift der Engel“. Eine Schrift, die nicht interpretiert wird, weil sie noch keine Bedeutung hat, war der Ausgangspunkt. Der Berliner Fotograf Robert Krokowski, der als wissenschaftlicher „Beobachter“ das Projekt dokumentiert, hat seit 2000 einen Schriftzug entwickelt, der entfernt an Graffiti oder Tattoos erinnert. Nun nähern sich die Akteure in unterschiedlichen Kontexten dem Thema. „Erst in der Annäherung jedes Einzelnen entsteht Sinn und Bedeutung“, erläutert Ulrike Hanke. „Ich führe nicht Regie, alle machen ihr Ding – und zusammen machen wir gemeinsame Sache.“ Ein Cellist, ein Kameramann, eine Flötistin, Performer, Filmer, Fotografen legten immer neue Spuren, die im Juni zusammengefügt werden sollen. „Transmediale Aktion“ nennt die Wissenschaft dieses Verfahren. „Es wird kein Theater“, verspricht Ulrike Hanke, die selbst Teil der Gruppe sein wird. „Eine Botschafterin. Sie zitiert. Sie muss sich immer vergewissern, dass sie noch da ist.“

Dass diese Arbeitsweise forschend vorgeht, liegt nahe. „Wir kennen nur die Einzelteile, was entsteht, wissen wir noch nicht“, sagt die Professorin, die in den vergangenen Jahren mit Rolf-Hermann Geller den Studienschwerpunkt konsequent zu einem Labor für Selbstbildung entwickelt hat. Diverse Publikationen stellen diesen Ansatz zur Diskussion.

Einen Rahmen mit einer Atmosphäre zu schaffen, in der Menschen sich öffnen können, gehört zu den schönsten und schwierigsten Aufgaben im Leben. Diese Fähigkeiten werden die Studenten der Sozialarbeit in der Praxis brauchen. Das Theaterlabor ist dafür der geeignete Raum: eine Versuchsbühne, ein Lehr- und Lerntheater für ein Bildungsmodell der Zukunft. „Neugierige Zuschauer aus anderen Studiengängen fragen inzwischen, ob sie hier mitmachen können“, beschreibt Ulrike Hanke eine beglückende Erfahrung.

Die Pförtnerin grüßt freundlich.

Fotoausstellung „Schrift der Engel: Momente“ mit Arbeiten von Robert Krokowski (Berlin) 1.-30. Juni 2005 in der Hochschulgalerie

Eröffnung des Theaterlabors mit „Schrift der Engel: Transmediale Aktion“ am 23. Juni, 19 Uhr.

Zuvor öffentlicher Vortrag (Hörsaal 2, 16.00 Uhr). „Die Quelle der Quellen“, Heinz-Werner Lawo, Institut für Unterlagenforschung Berlin

Fachhochschule Neubrandenburg, Brodaer Straße 02, 17033 Neubrandenburg